DER VERGESSENE MEISTER DER OPER
von Sigurd Neubauer
Dieser Beitrag erschien zuerst im ‚Man & Culture Magazine‘, die Veröffentlichung erfolgt in freundlicher Genehmigung des Autors: bit.ly/3D7T50F
Giacomo Meyerbeer (1791-1864), geboren als Jacob Meyer Beer in Berlin, war zu seinen Lebzeiten der unbestrittene Meister der Pariser Oper. Er gilt zudem als Virtuose des musikalischen Ausdrucks und als Großmeister der Grand Opéra, die sich von den klassischen Traditionen löste und sich dem romantischen Geist des 19. Jahrhunderts anschloss. Meyer Beer änderte später seinen Namen in Giacomo Meyerbeer.
Meyerbeer studierte in Italien Komposition und vor allem die Opern von Gioachino Rossini (1792-1868). Die beiden Komponisten wurden lebenslange Freunde; Rossini, dessen Werke bis heute zu den beliebtesten und meistgespielten Opern gehören, komponierte sogar einen Trauermarsch zu Ehren Meyerbeers.
Meyerbeer war auch Zeitgenosse von Gaetano Donizetti (1797-1848), Carl Maria von Weber (1786-1826), Hector Berlioz (1803-1869), Louis Spohr (1784-1859) und Frédéric Chopin (1810-1849), mit denen er befreundet war. Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) dagegen, der aus demselben jüdischen Milieu in Berlin stammte wie Meyerbeer, wurde zu einem erbitterten Rivalen: er betrachtete den Opernkomponisten mit besonderer Abscheu. Während Meyerbeers Kollegen, insbesondere Mendelssohn, ihren Platz in der Musikgeschichte gefunden haben und ihre Werke nach wie vor häufig aufgeführt werden, ist Meyerbeer heute weitgehend in Vergessenheit geraten.
Trotz Meyerbeers beispielloser Popularität während seiner Blütezeit an der Pariser Oper (1831-1864) setzte Richard Wagner (1813-1883) – einst Freund und Bewunderer, später Rivale und Todfeind – alles daran, Meyerbeers Ruf zu zerstören. Wagner befeuerte bösartig antisemitische Ressentiments gegenüber Meyerbeer, um sich selbst als der herausragende Opernkomponist seiner Zeit zu etablieren. Seine unerbittliche Kampagne gegen Meyerbeer, für die er auch die Unterstützung früherer Bewunderer Meyerbeers suchte, führte dazu, dass sein Rivale als Komponist von der Musikgeschichte weitgehend ignoriert wurde.
Angesichts der relativen Unbekanntheit Meyerbeers, dessen Opern kaum noch aufgeführt werden, habe ich mit großem Interesse das Buch von Elaine Thornton gelesen: Giacomo Meyerbeer und seine Familie: Zwischen zwei Welten (Vallentine Mitchell, 2021). Thornton schildert darin in großer Detailtreue Meyerbeers meritokratischen Aufstieg vom Wunderkind, das am preußischen Königshof das Klavierspiel erlernte, bis zum Ruhm an der Pariser Oper, wo sich die französischen und preußischen Könige sowie die übrige französische High Society an seinen prachtvollen Kompositionen erfreuten. Doch das Buch handelt nicht nur von Meyerbeer allein – auch wenn seine Opernerfolge und seine lebenslange Bindung an den preußischen Hof genauestens dokumentiert werden – sondern von der Geschichte der Familie Beer insgesamt.
MEYERBEER DIE FAMILIE
Die Familie Beer, angeführt von Jacob Herz Beer und Amalia (geb. Wulff), etablierte sich als eine der prominentesten Familien in Berlin; man könnte sie als ‚ jüdische Aristokratie‘ bezeichnen. Drei ihrer vier Kinder, Meyer (der später seinen Namen in Meyerbeer änderte), Wilhelm und Michael, machten sehr erfolgreiche Karrieren:
Wilhelm wurde „ein Amateurastronom… er und sein Kollege, der Wissenschaftler Johann Heinrich von Mädler, erstellten die ersten genauen Karten der Mond- und Marsoberfläche“, schreibt Thornton. Michael war ein Dramatiker und Dichter, der sich am bayerischen Hof von König Ludwig I. (1786-1868) einen Namen machte. Sein erfolgreichstes Stück, Der Paria, wurde von dem großen deutschen Klassiker Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) bewundert und später aufgeführt. Goethe äußerte sogar den Wunsch, Meyerbeer möge sein berühmtes Stück Faust vertonen, was später aber Charles Gounod (1818-1893) übernahm. Gounods Oper Faust war es auch, die Meyerbeers lange gehaltenen Rekord als meistgespielte Oper aller Zeiten an der Pariser Oper brach. Meyerbeers populärstes Werk, Les Huguenots [Die Hugenotten], wurde „von seiner Uraufführung 1836 bis zum Zweiten Weltkrieg über 1.000 Mal aufgeführt und in der ganzen Welt inszeniert“, schreibt Thornton.
Der vierte Sohn, Heinrich, wurde das ‚schwarze Schaf der Familie‘, entwickelte aber dennoch eine lebenslange Freundschaft mit dem großen deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Der Vater Jacob Herz Beer wiederum wurde zum reichsten Geschäftsmann Berlins, seine Frau empfing regelmäßig den preußischen Kanzler und pflegte langjährige Freundschaften mit Mitgliedern der königlichen Familie. Zu den vielen einflussreichen Persönlichkeiten, die die Familie Beer zu ihren Freunden zählte, gehörte der berühmte deutsche Dichter Heinrich Heine (1797-1856), der sich oft an Meyerbeer wandte, um persönliche Darlehen zu erhalten, da er sein Leben lang mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.
In einem Interview mit Man & Culture beschreibt Thornton die Beweggründe, über Meyerbeer zu schreiben, wie folgt: „Ich begann mich für Meyerbeer zu interessieren, als ich Anfang der 1990er Jahre zufällig eine Inszenierung seiner letzten Oper L’Africaine am Bielefelder Opernhaus sah. Zu dieser Zeit wusste ich so gut wie nichts über Meyerbeer und hatte keine vorgefassten Meinungen über seine Musik. Ich liebte die Oper, fand sie dramatisch spannend und fesselnd und beschloss, mehr über diesen Komponisten und seine Werke zu erfahren.“
Thornton fügt hinzu, dass sie, als sich ihr Interesse an Meyerbeer entwickelte, immer wieder von den negativen Kommentaren über seine Musik und seine Persönlichkeit im Allgemeinen überrascht war. Sie fragte sich, warum ein Komponist, der sein Leben lang enorm erfolgreich war und dessen Werk eine ganze Epoche der Musikgeschichte repräsentiert, so oft ignoriert oder sogar geschmäht wurde. „Ich war sehr schnell fasziniert von seiner außergewöhnlichen Familie und ihrem Hintergrund in der Berliner jüdischen Gemeinde des späten 18. und 19. Jahrhunderts und begann, ihre Geschichte zu skizzieren“, sagt Thornton. Die Recherche und das Schreiben des Buches habe jedoch über ein Jahrzehnt gedauert, fügt sie hinzu. „Eine der Herausforderungen beim Schreiben eines Buches über eine so erfolgreiche Familie“, sagt Thornton, „bestand darin, dass ich es innerhalb der Grenzen des Buches zusammenhalten musste. Es konnte nicht darum gehen, einen ganzheitlichen Eindruck von Wagner oder Heine zu vermitteln, die um Kredite bitten.“ Alles „muss natürlich durch das Prisma der Korrespondenz der Familie Beer betrachtet werden“, erklärt Thornton.
PREUSSISCHE WURZELN
Thornton beschreibt die Ära von Kaiser Friedrich dem Großen von Preußen (1712-1786), auch bekannt als Friedrich II., als ein goldenes Zeitalter in der jüdischen Geschichte. Der König war bestrebt, Berlin als Produktionsstätte zu stablieren, was den Deutschen – und den damals noch nicht emanzipierten Juden – die Möglichkeit eröffnete, sich am wirtschaftlichen Aufschwung zu beteiligen und so selbst Wohlstand zu schaffen. „Friedrich II. hatte strenge Vorschriften speziell für Juden in Berlin erlassen, wo nur die Wohlhabenden leben durften“, sagt Thornton und fügt hinzu, dass unter anderem auch Dienstboten und Lehrer dort leben konnten, aber keine Sicherheit genossen. Zu dieser Zeit legte der König den Juden soziale Beschränkungen auf, selbst den Wohlhabenden, indem er ihnen die Staatsbürgerschaft verweigerte.
Die Familie Wulff lebte in Berlin und Jacob Beer zog nach seiner Heirat mit Amalia ebenfalls in die Stadt. Die Politik Friedrichs des Großen, auch gegenüber den Juden, orientierte sich an den Idealen der Aufklärung, die das Verbindende und nicht das Trennende in den Mittelpunkt stellte. „In der folgenden Zeit blühte Berlin in Sachen Handel und Kultur auf, und in diesem Umfeld wuchs Meyerbeer auf“, erklärt Thornton. „Die enge Verbindung der Familie mit dem Hof begann mit Meyerbeers Klavierunterricht als Junge.“ Meyerbeer zog 1813 nach Wien, um seine musikalischen Studien fortzusetzen, gerade als Preußen Frankreich den Krieg erklärte. Preußen war seit der Niederlage von 1806 ein Satellitenstaat Frankreichs gewesen, rebellierte aber 1813 und schloss sich den gegen Frankreich kämpfenden Alliierten an. Nach den napoleonischen Kriegen (1803-1815), die Thornton ebenfalls im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Familie Beer untersucht, wurden die Berliner Juden schließlich 1812 emanzipiert. Dennoch blieb für Juden eine gewisse Unsicherheit bestehen, auch in ihrer Wahrnehmung durch die preußische High Society. Meyerbeers Mutter Amalia spielte eine wichtige Rolle bei der Mittelbeschaffung für die preußischen Kriegsanstrengungen, während sein Bruder Wilhelm der preußischen Armee beitrat.
In Wien lernte Meyerbeer unter anderem Antonio Salieri (1750-1825) kennen, den Hauptrivalen von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791). Von Wien aus reiste er 1816 nach Italien, um seine Kompositionsstudien zu vertiefen, wo er bis 1825 blieb. Nach seinem beachtlichen Erfolg in Italien, wo er sich mit Rossini anfreundete, zog der Komponist nach Paris, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1864 blieb und der wichtigste Opernkomponist seiner Zeit wurde.
Thorntons Buch ist ansprechend geschrieben und sowohl für Gelehrte als auch für Laien leicht zugänglich. Der Ruhm und die glänzenden Erfolge der Familie Beer werden darin mit den allgemeinen Veränderungen in den deutsch-jüdischen Beziehungen in Beziehung gesetzt, die durch die verschiedenen von Friedrich dem Großen eingeleiteten Reformen eingeleitet wurden. Während Meyerbeers Erfolg von einer ehrgeizigen Mutter (Amalia) und einem Vater gefördert wurde, die ihn „als gleichwertig mit Haydn, Mozart und Beethoven betrachteten“, wirft Thorntons Buch ein Licht auf Meyerbeers zuvorkommende Natur, einschließlich seiner finanziellen Großzügigkeit gegenüber vielen Künstlern, u.a. Carl Maria von Weber und Luis Spohr. Als Meyerbeer Musikdirektor am preußischen Hof wurde, bestand er darauf, dass verstärkt Werke deutscher Komponisten aufgeführt werden sollten. Der erste Künstler, der daraufhin auf den Spielplan gesetzt wurde, war Spohr, den Meyerbeer seit 1804 kannte. Und obwohl auch Richard Wagner den Freischütz bewunderte und ihn für eine der besten deutschen romantischen Opern hielt, war es Heinrich Beer, Meyerbeers Bruder, der die Interessen der Familie von Weber in Berlin nach dem frühen Tod von Carl Maria unterstützte. Die Ouvertüren von Der Freischütz und Oberon gehören bis heute zu den beliebtesten und meistgespielten der klassischen Musik, auch wenn die beiden Opern selbst an Popularität eingebüßt haben.
Meyerbeer bewies auch seine Großzügigkeit gegenüber Berlioz, den er für den Chevalier der Ehrenlegion in Frankreich und den Roten Adler in Preußen nominierte. Die Ehrlichkeit und Ehrhaftigkeit der Familie Beer, insbesondere von Meyerbeer, sind Themen, die sich durch das gesamte Buch von Thornton ziehen. Indem sie Meyerbeers meritokratischen Aufstieg zum Star durch seinen tiefgreifenden Einfluss auf die Oper hervorhebt, hat Thornton der Öffentlichkeit einen wichtigen Dienst erwiesen: Sie erinnert die Opernwelt und uns alle, die wir diese ganz besondere Form der Kunst schätzen, an das beeindruckende und außergewöhnliche Vermächtnis eines Künstlers, der von der Geschichte leider nicht ihren verdienten Platz einnehmen: „Während Meyerbeers Kollegen, insbesondere Mendelssohn, in der Musikgeschichte unsterblich geworden sind und ihre Werke weiterhin häufig aufgeführt werden, ist Meyerbeer von der modernen Welt weitgehend vergessen worden.“