Am 26. April 2023 kommt das Werk Nigunim, das der Komponist Moritz Gagern 2018 für das JCOM geschrieben hat, wieder zur Aufführung, dieses Mal in Verbindung mit einem neuen Video-Kunstwerk, das der Video-Künstler Christoph Brech im Auftrag der Sammlung Goetz dazu schuf. Weitere Infos und Karten zum Konzert hier.
Moritz Gagern zu Nigunim:
‚Eine bestimmte Art der Beseeltheit und Leichtigkeit verbindet die verschiedenartigen Stücke, die uns als Hochzeitsmusik der osteuropäischen Juden überliefert sind. Will man sich als Komponist mit dieser Musik auseinandersetzen, also nicht ihr breites Spektrum einfach abbilden, sondern von heute aus etwas Neues daraus schaffen, liegt es nahe, die Spielweise prägender Instrumentalisten zu untersuchen. Am Anfang meiner Auseinandersetzung stand daher ein archäologisches Erlebnis. Ich hörte mir unterschiedlich rauschende Aufnahmen aus der Frühzeit der Tonaufzeichnung wieder und wieder an, zum Teil in extremer Zeitlupe, um herauszufinden, was da eigentlich passiert. Es passiert Einiges, das nach orthodoxem Musikverständnis gar nicht passieren dürfte. Physikalische Grenzen werden verschoben. In diesen Techniken setzt sich der kantorale Gesang der Synagoge fort. Die charakteristischen Spieltechniken sind instrumentale Annäherungen an die menschliche Stimme.
„Klezmer“ hat es nie gegeben, bis vor knapp vierzig Jahren eine einzigartige Sparte der american folk music so genannt wurde. Die neue Folkbewegung interpretierte die untergegangene Musik jüdischer Einwanderer, wie sie in den 1920er Jahren vor amerikanischem Publikum gespielt worden war: ein Echo aus Osteuropa, das wertvolle Informationen enthält, weil es besser dokumentiert ist, als das Original, das sich aber schnell akklimatisiert hat. Zwei Generationen später, im Klezmer, war aus dem Echo natürlich ein eigenes Phänomen geworden. Die Musik, mit der sich die Komposition Nigunim beschäftigt, ist der kaum dokumentierte Urahn des Folkrevivals.
Was es in der Ukraine, in Bessarabien, in Polen, Rumänien und Moldawien über Jahrhunderte gegeben hat, ist eine von professionellen Musikern gespielte para-liturgische Hochzeitsmusik, deren Besetzung changierte zwischen einem einzelnen Hackbrettvirtuosen und einem großen gemischten Orchester, in die ein höchst unwahrscheinliches Bündel musikalischer Einflüsse eingegangen war. Sie war nicht im engeren Sinn religiös, aber auch nicht profan. Der europäische Einfluss liegt in manchen Rhythmen und Melodiegestalten, in der tendenziell akkordischen Begleitung. Der orientalische Einfluss liegt in der melodischen Feinarbeit, die in ihrer virtuos vorgetragenen Mikro-Komplexität die Grenzen der Notierbarkeit zu sprengen scheint.
Die traditionelle europäische Musik ist ohne ihre Schriftlichkeit nicht denkbar, denn sie ist vertikal komplex, also in der mehrstimmigen Aufschichtung und Ausarbeitung und im harmonischen Zusammenspiel zwischen Melodie und Begleitung. Die orientalische Musik ist horizontal komplex, ihr besonderes Merkmal sind die fein durchgearbeiteten Ornamente zwischen den notierbaren Umrissen der Melodie, die sich dafür nicht in den kontrapunktischen Tonraum ausbreitet. Eine Notation der überlieferten Melodien ohne die Ornamentik erfasst nicht den eigentlichen Gehalt der Melodie, den der Vortragende ihr gibt. Die Ornamentik zu notieren wäre dagegen sehr unökonomisch, da sie ein praktischer Aspekt dieser Musikkultur ist, von Lehrer zu Lehrer verschieden, ein Kennzeichen der virtuosen Interpreten und nicht Teil der Komposition oder Spielvorlage.
Damit ist ein Kernthema von Nigunim für Orchester berührt, nämlich die Frage, wie eine für klassische Musiker detailliert aufgeschriebene Orchesterkomposition im 21. Jahrhundert einer mündlich überlieferten und vom praktischen Wissen ihrer Interpreten abhängigen Musikkultur gerecht werden kann. Insbesondere, da diese Überlieferung vor etwa hundert Jahren endete, ohne mehr zu hinterlassen als ein paar aufgeschriebene Melodien und verstreute Grammophonaufnahmen aus Warschau, Odessa, Istanbul, Kiew oder New York City.
Als Daniel Grossmann und Andrea Schönhofer im Frühjahr 2015 auf mich zukamen, hatten sie eine Vision: Gerade und nur mit einem Orchester kann man dieser verstummten Hochzeitsmusik gerecht werden, da es sich ursprünglich um Musik in möglichst großen Besetzungen handelte, je größer die Hochzeit, desto größer das Orchester. Der schöne Haken an der Vision war, dass natürlich weder Originalnoten zur Verfügung stehen (können), noch irgendein freierer Versuch vorlag, das Original mit einer zeitgenössischen kompositorischen Position spürbar zu machen; sei es direkt, durch Annäherungen an das Original, sei es indirekt, durch eine künstlerisch-kompositorische Stellungnahme zu dem ganzen Komplex: der verschollenen Welt aschkenasischer Hochzeitsmusik und ihrem Ur-Enkel, dem Klezmer. Als sie an mich herantraten, war meine erste Frage: Wollt ihr, dass ich ein „Klezmer“-Konzert schreibe? Oder ein Konzert „über“ Klezmer. Die Antwort war natürlich: beides. Und meine Antwort darauf war natürlich: das könnte interessant werden.
Die Quadratur des Kreises, an der sich die Komposition Nigunim für Orchester orientiert, besteht darin, komposi- torische Reflexion und Tanzbein zu vereinen, autonome Konzert- musik über rituelle Gebrauchsmusik zu schreiben, interpreta- torische Komplexität doch zu notieren. Mit anderen Worten: die produktive Unmöglichkeit besteht darin, in einem zeitgenössischen Orchesterwerk des 21. Jahrhunderts eine verschollene rituelle Musik erfahrbar zu machen, die seinerzeit als Musik zu „funktionieren“ hatte, zum Weinen, Lachen, Tanzen, Essen und Prozessieren anregen sollte (man kann auf einer Hochzeit nicht durchgehend experimentelles Geschabe und Gekratze anbieten, wenn man davon lebt, wieder engagiert zu werden), diese Musik erlebbar zu machen und wiederzubeleben, und mit einer zeitgemäßen musikalischen Reflexion zu verbinden.
Ein Schlüssel war für mich das Geräusch der Wiedergabe dieser alten Aufnahmen auf Schellackplatte, das Rauschen des Grammophons. Ein anderer war die minutiöse Analyse bestimmter Interpreten, beziehungsweise ihrer Ornamentik, wofür nur einige wenige Aufnahmen in Frage kamen. Durch die ausgefeilten Ornamente erhält diese Musik ihr Wesen. Nimmt man diese kaum hörbaren Figuren und typischen Spielweisen unter die Lupe, kommt eine eigene Welt zum Vorschein, spieltechnisch unglaubwürdig und in jeder Hinsicht frei. Sie bilden einen Teil des Grundmaterials von Nigunim.
Meine Kompositionen folgen oft narrativen Strukturen – wenn man so will, ist Nigunim eine komponierte Hochzeit. So wandert die Komposition durch die heißen Punkte einer archaischen Hochzeit, getragen von ihrem zeitlosen Gegen- stand, dem Mysterium der Ehe. Was mich an diesem Ritus besonders beeindruckt, ist die nachdenkliche Integration auch des Vergehens und Leides, der Rekurs auf das Schicksal weit zurückliegender Generationen und auf die staunenswerten Grundpfeiler des menschlichen Lebens, so dass die Party am Ende auch wirklich krachen kann.‘