Im November 1951 begegnet Paul Celan der Malerin und Graphikerin Gisèle de Lestrange, der er bis an sein Lebensende verbunden bleiben sollte – trotz oder wegen der großen Unterschiede in ihrer Herkunft und persönlichen Geschichte. Was beide einte war eine große kreative Sensibilität und ein künstlerischer Ausdruckswille. Die Verbundenheit beider hielt über Jahre allen Problemen der Liebesbeziehung und Ehe stand: Selbst als sich beide räumlich trennten, weil Paul Celans psychischer Zustand ein Zusammenleben unmöglich machte, blieben die beiden sich eng verbunden.
Zwischen Dezember 1951 und März 1970, also kurz nach der ersten Begegnung bis etwa einen Monat vor Celans Freitod am 20. April 1970, wechselten Gisèle und Paul Celan 737 Briefe. Diese Briefe bieten einen intimen Einblick in das Leben von zwei der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts: einem durch die Shoah traumatisierten Sprachkünstler, der an der Schuld des Überlebenden zerbricht, und einer souveränen, selbstbestimmten Frau und hochbegabten, sensiblen Künstlerin. In ihrer Korrespondenz erkunden die beiden ein breites Spektrum an Themen, von persönlichen bis hin zu philosophischen.
Die Briefe von Celan und Lestrange spiegeln ihre jeweiligen Interessen an Sprache, Literatur und Kunst wider. Als Dichter beschäftigt sich Celan oft mit der Macht der Worte und erforscht, wie sie eingesetzt werden können, um Gefühle und Ideen auszudrücken. Er bringt seine Bewunderung für Lestranges Schreiben zum Ausdruck und stellt fest, dass ihre „Sprache wie ein Fluss und ihre Worte wie eine Brücke“ sind. Sein eigenes Schreiben ist oft von einer großen Sensibilität und einer Konzentration auf die Nuancen der Sprache geprägt.
Lestrange konzentriert sich in ähnlicher Weise auf die Sprache und ihre Fähigkeit, Gedanken zu verkapseln, wobei sie oft einen philosophischeren Ansatz als Celan wählt. Sie macht sich Gedanken über die Grenzen der Sprache und darüber, wie sie zur Vermittlung von Ideen eingesetzt werden kann. In einem Brief bemerkt sie, dass „die Worte, die wir benutzen, nie mit den Ideen übereinstimmen, die wir mitteilen wollen“. Sie geht auch auf die Macht der Literatur ein und stellt fest, dass sie die Tiefen der menschlichen Erfahrung erforschen kann.
Die beiden sprechen auch über sehr persönliche Themen, wie ihre jeweiligen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Celan reflektiert über die Schrecken des Holocaust und drückt seine Trauer und seinen Schmerz über den Verlust von Menschenleben aus. Lestrange denkt in ähnlicher Weise, aber aus gänzlich anderer Perspektive über die Auswirkungen des Krieges nach, der die europäische Gesellschaft nachhaltig geprägt hat. Dies ist ihr deutlich, ob wohl sie den Krieg und die deutsche Okkupation als Tochter einer aristokratischen katholischen französischen Familie relativ unbeschadet überstanden hat. Der Briefwechsel bietet einen einzigartigen Einblick in das Innenleben dieser beiden Künstler und sind ein Zeugnis für die Macht des geschriebenen Wortes.
Der Briefwechsel ist Thema der Kammeroper Herzland der Berliner Komponistin Sarah Nemtsov, die in konzertanter Aufführung im Konzert des JCOM am 22. März 2023 zu hören sein wird. Weitere Infos zum Konzert hier.