Baruch de Spinoza (1632–1677) zählt zu den einflussreichsten Philosophen der Frühen Neuzeit. Seine Ideen über Gott, Natur, Freiheit und Vernunft beeinflussten nicht nur die Philosophie, sondern auch moderne Vorstellungen von Toleranz, Ethik und Demokratie. Was viele jedoch nicht wissen: Spinozas Denken ist untrennbar mit seiner Herkunft aus der sephardisch-jüdischen Tradition verbunden – einer kulturellen und religiösen Gemeinschaft mit tiefer, oft tragischer Geschichte.
Sephardische Wurzeln – Ein Erbe von Vertreibung und Wiederaufbau
Spinoza wurde 1632 in Amsterdam geboren, in eine Familie sephardischer Juden, die ursprünglich aus Portugal stammten. Die Sepharden waren Nachkommen der jüdischen Gemeinden auf der Iberischen Halbinsel, die im 15. Jahrhundert durch die Inquisition brutal verfolgt wurden. Viele flohen nach Portugal, mussten dort jedoch spätestens ab 1497 zum Christentum konvertieren oder wurden vertrieben.
Die Familie Spinoza war eine von vielen, die ins niederländische Exil zogen, um wieder offen als Juden leben zu können. Amsterdam bot im 17. Jahrhundert vergleichsweise religiöse Toleranz und zog eine blühende sephardisch-jüdische Gemeinde an – eine Gemeinschaft, die stolz ihre spanisch-portugiesische Kultur pflegte, aber auch mit den Spannungen eines Wiederaufbaus jüdischer Identität nach Jahrhunderten der Verfolgung rang.

Spinozas Verhältnis zu seiner Herkunft
Baruch de Spinoza wuchs in dieser Gemeinde auf und erhielt eine traditionelle jüdische Ausbildung. Früh begann er, zentrale religiöse Dogmen zu hinterfragen. Seine kritische Haltung gegenüber Wundern, Offenbarung und der Vorstellung eines persönlichen Gottes brachte ihn in Konflikt mit den religiösen Autoritäten seiner Zeit.
1656 wurde Spinoza mit dem Herem, dem jüdischen Bannfluch, aus der Gemeinde ausgeschlossen. Dieser Ausschluss war beispiellos hart formuliert und wurde nie widerrufen – ein Zeichen dafür, wie gefährlich seine Ideen für die fragile Identität der sephardischen Exilgemeinde empfunden wurden.
Doch gerade in dieser Spannung zwischen Herkunft und Bruch liegt ein tieferer Zusammenhang: Spinozas Denken über Gott als natura naturans – also Gott als Natur selbst – kann als radikale Weiterentwicklung jener intellektuellen Tradition verstanden werden, die aus der mittelalterlichen jüdisch-islamischen Philosophie stammt. Er war stark beeinflusst von Maimonides, aber ging weit über ihn hinaus.
Spinozas Hauptwerke – Vernunft, Ethik und radikale Theologie
Baruch de Spinozas philosophisches Werk ist vergleichsweise schmal im Umfang, aber von revolutionärer Tiefe. Er veröffentlichte zu Lebzeiten nur sehr wenig unter eigenem Namen – aus gutem Grund: Seine Gedanken galten vielen als ketzerisch, gefährlich oder gar atheistisch. Umso bemerkenswerter ist die Wirkung seiner Schriften, insbesondere drei Hauptwerke, die bis heute als Meilensteine der Philosophie gelten.
Tractatus Theologico-Politicus (1670)
Dieses Werk erschien anonym und war sofort hoch umstritten. Spinoza verteidigt darin die Freiheit des Denkens und die Trennung von Theologie und Philosophie. Er argumentiert, dass religiöse Autoritäten nicht über das Denken herrschen dürfen – und dass die Bibel nicht wörtlich, sondern historisch-kritisch gelesen werden sollte. Besonders kühn war seine These, dass die Heilige Schrift ein menschliches Produkt ist und ihre Autorität nicht von göttlicher Inspiration, sondern vom Nutzen für das Gemeinwesen abhängt.
Der Tractatus war ein Plädoyer für religiöse Toleranz, Meinungsfreiheit – und eine radikale Neubewertung religiöser Texte. Dass er von einem Mann kam, der selbst aus einer religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen worden war, verleiht ihm eine doppelte Brisanz.
Ethica, ordine geometrico demonstrata (posthum 1677)
Die Ethik, Spinozas Hauptwerk, wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht – zu heikel war ihr Inhalt. In ihr legt er seine ganze Philosophie in der strengen Form geometrischer Beweise dar: Axiome, Definitionen, Lehrsätze und Beweise folgen einander, als wolle er Moral und Metaphysik so unumstößlich machen wie Mathematik.
Im Zentrum steht seine berühmte These: „Deus sive Natura“ – Gott oder die Natur. Für Spinoza ist Gott kein personales Wesen außerhalb der Welt, sondern die unendliche, notwendige Substanz, in der alles existiert. Freiheit bedeutet für ihn nicht Willkür, sondern das Erkennen und Akzeptieren der Naturgesetze. Glückseligkeit entsteht aus Erkenntnis, nicht aus Glauben.
Tractatus Politicus (unvollendet, posthum 1677)
In diesem unvollendeten politischen Traktat führt Spinoza seine Gedanken zur idealen Staatsform weiter. Er analysiert Monarchie, Aristokratie und Demokratie und spricht sich letztlich für ein demokratisches Gemeinwesen aus, das die Freiheit des Denkens schützt. Auch hier zeigt sich sein modernes Denken: Macht soll kontrolliert, Religion vom Staat unabhängig und Freiheit nicht als Gefahr, sondern als Fundament der Ordnung verstanden werden.
Spinozas Werke markieren einen Wendepunkt: von der religiös geprägten Weltdeutung zur rationalen Analyse von Mensch, Gesellschaft und Natur. Sie entstanden aus einem Leben im Spannungsfeld von Tradition und Bruch – und wirken bis heute nach.
Ein universeller Denker mit jüdischen Wurzeln
Spinoza entwickelte eine Ethik, die Vernunft an die Stelle der religiösen Offenbarung setzte. Er plädierte für Meinungsfreiheit, Toleranz und eine natürliche Ordnung, in der der Mensch Teil des Ganzen ist – nicht Zentrum oder Krone der Schöpfung.
Seine sephardischen Wurzeln lieferten ihm ein kulturelles und geistiges Fundament: den Respekt vor Text und Interpretation, den Umgang mit Mehrsprachigkeit und Exil, sowie die Erfahrung, dass religiöse Identität sowohl Halt geben als auch bedrängen kann.
Fazit
Baruch de Spinoza war ein Grenzgänger: zwischen Religion und Philosophie, Tradition und Aufklärung, Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Seine sephardischen Wurzeln sind nicht nur biografisches Detail – sie sind ein Schlüssel, um die Tiefe und Radikalität seines Denkens zu verstehen. In seiner Person verbinden sich das Erbe einer verfolgten Kultur mit der Vision einer universalen Vernunft.
Im Herbst 2025 beschäftigt sich das JCOM im Projekt DIE SCHLÜSSEL VON TOLEDO mit der Musik und Kultur der sephardischen Juden. Dieses Projekt wird in der Bildungsagenda NS - Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.
Aktuelle Konzerttermine unter www.jcom.de/konzerte.
