Mendele Lohengrin ist eine unterhaltsame Erzählung, die das Dilemma der europäischen Juden im 19. Jahrhundert widerspiegelt: das Leben zwischen Tradition und Assimilation, wirtschaftlichem Erfolg und Antisemitismus. Anhand der Figur des Mendele werden gesellschaftliche und kulturelle Spannungen der damaligen Zeit humorvoll, aber kritisch zu beleuchtet.
Die Handlung von Mendele Lohengrin
Held der Geschichte Mendele Lohengrin ist der arme jüdische Musikant Mendele Klesmer, der sein Brot mit dem Aufspielen bei Hochzeiten in dem jüdischen Shtetl Martinsdorf verdient. Eines Tages erfüllt er sich mit seinen kargen Ersparnissen seinen grossen Traum, einen Besuch im kaiserlichen Hoftheater in Wien. Zufällig wird an diesem Abend Richard Wagners Lohengrin gegeben. Die Aufführung wird für Mendele, der das Werk ohne jedes Vorwissen rezipiert, zum überkonfessionellen Erweckungserlebnis.
Mendele kehrt als gewandelter Mensch nach Martinsdorf zurück und weigert sich fortan, als Spielmann mit den traditionellen Melodien aufzutreten. Er beharrt darauf, bei allen Anlässen nur noch Musik aus Lohengrin zum Besten zu geben. Darüber kommt es natürlich zu einem Streit mit der jüdischen Gemeinde, die ihren Musikanten mit dem spöttischen Namen 'Mendele Lohengrin' belegt.
Der Musikant versucht hingegen seine Erfahrung zu vermitteln, dass in Wagners Lohengrin die Schranken der Religion und der Intoleranz aufgehoben sind: "Was hat die Musik mit die Juden zu thun oder mit die Christen? [. . .] Was hasst Jud, was hasst Christ bei Musik? Is Musik koscher? Is eine Melodie trefe? Muss man denn Noten einsalzen und auswaschen? Muss man eine Fidel schachten?"
Der Kontext von Mendele Lohengrin: Jüdische Identität im Umbruch
Die Zeit, in der der Autor von Mendele Lohengrin, Heinrich York-Steiner, lebte, war geprägt von einem tiefgreifenden Wandel in der jüdischen Gemeinschaft Europas. Viele Juden waren bestrebt, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, während andere an Traditionen festhielten oder nach neuen Wegen suchten, ihre Identität zu bewahren.
York-Steiner selbst, der als Journalist in Wien tätig war, bewegte sich in diesem Spannungsfeld zwischen Assimilation und kulturellem Bewusstsein und sein Mendele Lohengrin spiegelt genau diese Herausforderungen wider. Das Stück parodiert das Streben vieler assimilierter Juden nach Anerkennung und Akzeptanz in einer oftmals feindseligen Gesellschaft. Dabei nimmt York-Steiner mit spitzer Feder sowohl die Selbstverleugnung als auch die naive Verehrung deutscher Kultur aufs Korn.
Der Autor Heinrich York-Steiner
Heinrich Elchanan York-Steiner (1859–1934) war ein österreichisch-jüdischer Schriftsteller, Journalist und Theaterkritiker. Er spielte eine wichtige Rolle als Kulturvermittler in der intellektuellen und künstlerischen Szene Wiens zur Zeit der Jahrhundertwende. Besonders bekannt ist er als enger Freund Theodor Herzls.
York-Steiner wurde 1859 in Miskolc, Österreich-Ungarn, geboren. Nach seinem Studium in Wien begann er eine Karriere als Schriftsteller und Theaterkritiker. Er war bekannt für seine scharfsinnigen und gut formulierten Kritiken und bewegte sich in den Kreisen der literarischen und kulturellen Elite. Als Theaterkritiker und Autor, setzte er sich für die Förderung der jüdischen Kultur ein. Er verstand die Bühne als ein wichtiges Medium, um gesellschaftliche Themen und die jüdische Identität zu reflektieren.
York-Steiner war ein enger Vertrauter Theodor Herzls, der als Begründer des modernen politischen Zionismus und als 'Vater des Staates Israel' gilt. York-Steiner teilte Herzls politische Ideen und unterstützte ihn in seinen Bemühungen um die Gründung des modernen Zionismus. Er war aktiv an der Verbreitung von Herzls Ideen beteiligt, sowohl auf politischer Ebene, als auch als Künstler.
York-Steiner repräsentierte die Synthese aus jüdischer Tradition und europäischer Kultur, die für viele Intellektuelle seiner Zeit prägend war. Er verstarb 1934, hinterließ jedoch ein Vermächtnis als Kulturvermittler und prominenter Unterstützer jüdischer Emanzipation und Identität in einer Zeit des Wandels und der Herausforderungen.
Die Veröffentlichung von Mendele Lohengrin
Die Erzählung Mendele Lohengrin entstand im Jahr 1888 und wurde Anfang 1898 unter dem Titel 'Mendele Lohengrin. Die Geschichte eines Musikanten' als Feuilleton in der von Theodor Herzl begründeten zionistischen Zeitung 'Die Welt' abgedruckt. 1904 erschien sie erneut in dem Sammelband 'Der Talmudbauer', den der Jüdische Verlag Berlin herausgab.
Die Relevanz von Mendele Lohengrin heute
Auch mehr als ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung bleibt Mendele Lohengrin aktuell. Die Frage nach kultureller Identität und Integration stellt sich weiterhin in vielen Gesellschaften. York-Steiners Satire erinnert uns daran, dass Anpassung nicht zwangsläufig mit Selbstaufgabe gleichzusetzen ist und dass es möglich ist, in einer pluralistischen Welt authentisch zu bleiben. Mendele Lohengrin ist also weit mehr als nur eine satirische Erzählung. Es ist ein kulturhistorisches Dokument, das die inneren Konflikte einer jüdischen Gemeinschaft im Wandel beleuchtet und zugleich zeitlose Fragen über Identität, Zugehörigkeit und Stolz aufwirft.
Zu seinem 20. Jubiläum hat das Jewish Chamber Orchestra Munich die Erzählung Mendele Lohengrin als Klezmer-Singspiel vertonen lassen. Im Jahr 2025 gibt es deutschlandweit sieben Aufführungen. Aktuelle Termine finden Sie in unserem Konzertkalender: https://jcom.de/collections/konzerte